Unweit der Kirche San Juan de los Reyes stand ein altes arabisches Haus, errichtet noch in der Zeit der Emire, als Granada unter dem Zeichen des Halbmondes erblühte. Seine Mauern bewahrten die Kühle vergangener Tage, und der Innenhof war erfüllt vom Murmeln des Wassers und dem Duft des Jasmins. Nach dem Fall der Stadt übergaben die Katholischen Könige das Haus dem Ritter und Würdenträger Don Diego de la Victoria, dem es bestimmt war, im Schatten einer fremden Vergangenheit zu leben.
Don Diego hatte eine Tochter namens Estrella — ihr Name bedeutete „Stern“, und sie schien von einem stillen, leuchtenden Zauber umgeben. Sie war still, nachdenklich und den Träumen zugetan. Am liebsten hielt sie sich im Garten auf, den sie von den maurischen Besitzern geerbt hatte: mit schmalen Wegen, uralten Bäumen und einem Marmorbrunnen, dessen Wasser leise murmelte. Unter allen Pflanzen ragte der Zypressenbaum empor, dunkel wie schwarzes Feuer, das in den Himmel schoss. Man sagte, er sei von einem Mauren gepflanzt worden, und in seinen Zweigen schien die Präsenz dieses Mauren zu verweilen, die uralte Geheimnisse bewahrte.
Eines Abends in der Dämmerung hörte Estrella den Gesang einer Amsel, der aus den Tiefen des Zypressenbaums erklang — süß und klagend zugleich, wie die Klage einer Seele, die zwischen den Welten gefangen ist. Von da an wartete sie jeden Abend auf diesen Gesang. In einer jener Nächte öffnete sie das Fenster ihres Zimmers. Der Mond, klar und reglos, überflutete den Garten mit silbernem Licht, und die Schatten des Zypressenbaums zeichneten sich wie ein Zeichen des Schicksals auf den Boden.
Als die Amsel erneut zu singen begann, öffneten sich die Zweige des Baumes, und aus ihrem Schatten trat ein Mann hervor. Sein Gesicht war bleich, sein Blick tief und voller Traurigkeit. Er nannte sich Ben Said, Sohn der Familie, die einst in diesem Haus lebte und nach dem Machtwechsel vertrieben worden war. Nacht für Nacht kehrte er, von Liebe und Sehnsucht getrieben, zu diesem Ort zurück — wie ein Geist, verbunden mit der Erde seiner Vorfahren.
Mit jeder Begegnung verflochten sich ihre Herzen enger. Ihre Liebe war ein Geheimnis, leise wie ein geflüstertes Gebet, und zugleich dem Untergang geweiht wie ein Lied vor der Morgendämmerung. Estrella, geblendet vom Glück, bemerkte nicht, dass ihr Verhalten den Argwohn ihres Bruders erregte. Eines Nachts schoss er, als er den Schatten des Mauren beim Zypressenbaum sah, einen Pfeil. Verwundet verschwand Ben Said im Dunkel der Nacht, wie ein Traum, der sich verflüchtigt.
Am Morgen darauf stieg Estrellas Bruder in den Garten hinab. Eine Blutspur führte ihn zu einem Stein am Brunnen, dessen Wasser gleichgültig gegenüber menschlichem Leid weiterrauschte. Er schob die Platten beiseite und entdeckte einen verborgenen Gang, der in die Tiefe führte. Entschlossen stieg er hinab — dort, wo der Stein kalt war und die Luft reglos stand. Dort fand er Ben Said, vom tödlichen Fieber gezeichnet. Mit seinem letzten Atemzug sprach er den Namen derjenigen aus, die sein Leitstern gewesen war — Estrella.
Tief erschüttert kehrte der Bruder ins Haus zurück. Als Estrella vom Tod ihres Geliebten erfuhr, verlor sie den Verstand. Doch ihr Wahnsinn war still und licht, wie ein verloschener Stern. Sie ließ sich am Fuß des Zypressenbaums nieder und verbrachte Tage und Nächte im Garten, lauschend dem Wasser und dem Wind. Seit jener Zeit nannte man den Baum den verzauberten Zypressenbaum, denn in seinen Zweigen sang noch immer die Amsel, und man sagte, in ihrem Lied lebe die Seele des Mauren weiter — auf ewig verbunden mit der Liebe, dem Mond und der Erinnerung an das verlorene Granada.